Der Buchwissenschaftler David Oels schrieb einen Kommentar für den Freitag, in dem er das Kerngeschäft der Bibliotheken thematisiert. Also, eigentlich thematisiert er es nicht.
Der Kommentar trägt den Titel “Die Onleihe”. Um die Onleihe geht es aber auch nicht so wirklich. Vielmehr beschreibt Oels die miserable Situation der Bibliotheken. Budgetkürzungen, verkürzte Öffnungszeiten: Krise. Dann die Begründung:
Dabei sammeln Bibliotheken schon lange nicht mehr nur Bücher und machen sie ihren Benutzern zugänglich. Seit den siebziger Jahren verstehen sie sich als Informationsdienstleister, die Zugang ebenso zu den jeweils neuen Medien ermöglichen. Das ist löblich und verständlich, aber womöglich auch Teil des Problems.
Das bibliothekarische Selbstverständnis als Informationsdienstleister sorgt für Budgetkürzungen? Oels hält diese steile These wohl für selbsterklärend. Denn schon der nächste Satz singt das Hohelied des gedruckten Buches, das ja im Gegensatz zur Langspielplatte und Disketten auch nach vielen Jahrzehnten, Jahrhunderten noch benutzbar sind.
Ob Oels auf dieser Erkenntnis den nächsten Absatz aufbaut oder ihn völlig unabhängig davon geschrieben hat, ist mir nicht klar. Auf jeden Fall weist er nun auf den jüngsten Medienwandel hin, der eine Lösung eröffne:
Denn erstmals lassen sich E-Books, Zeitschriften, Datenbanken oder Archive zentral anbieten und dezentral nutzen. Die Deutsche Digitale Bibliothek soll ab 2012 das „kulturelle Erbe“ online verfügbar machen, und im Frühjahr dieses Jahres hat die Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder ein „Gesamtkonzept für die Informationsinfrastruktur in Deutschland“ verabschiedet, das auf Open Access setzt, also den unentgeltlichen Zugang zu relevanten wissenschaftlichen Publikationen. Selbst die Stadtbibliotheken forcieren die „Onleihe“. Angemeldete Bibliotheksnutzer können digitale Bücher, aber auch Filme, Musik und E-Paper großer Zeitungen unentgeltlich ausleihen.
[Kleine Detailkritik am Rande: Project Gutenberg ist mehr oder weniger seit 1971 aktiv. Datenbanken und elektronische Zeitschriften gibt es auch schon ein paar Jahre. Und wenn Open Access für Zugang zu “relevanten” wissenschaftliche Publikationen gilt, bedeutet das dann im Umkehrschluss… naja. Immerhin wird hier kurz die Onleihe erwähnt.]
Wie auch immer, wir feiern die digitalen Medien und ihre Möglichkeiten! Und plötzlich fordert Oels:
Für die stationären Bibliotheken ergibt sich damit die Chance, das Kerngeschäft, das gedruckte Buch und dessen Vermittlung, wieder ins Zentrum zu stellen. Darauf gilt es zu bestehen, und das gilt es durchzusetzen, auch wenn findige Stadtoberhäupter auf die Idee kommen sollten, analoge Bibliotheken angesichts der digitalen Möglichkeiten gleich ganz abzuschaffen.
Was hat das nun wieder mit Open Access, der Deutschen Digitalen Bibliothek und der Onleihe zu tun? Und teilt Oels Bibliotheken ein in stationäre und nicht-stationäre? Wo sind sie, die rastlos durch die Lande ziehenden und gezogen werdenden Bibliothekswesen? Digitale Nomaden, E-Books verteilend und relevante Publikationen zugänglich machend?
Zum Kerngeschäft der Bibliotheken kann ich im ganzen Artikel keine relevante Aussage finden. Aber es gehört offensichtlich zum Kerngeschäft der Buchwissenschaftler, einfach mal die Relevanz des gedruckten Buches in den Raum zu werfen.
[Besten Dank an Frank für den Hinweis!]
Nun ja – es scheint mir fast, als hätte David Oels einfach auf ein ihm in den Details sicher fremdes Terrain betreten, um dort zielstrebig – Achtung LIBREAS-CfP-Hinweis – zu scheitern.
Besonders schlimm finde ich den Text aber nicht: Er verkürzt und pauschalisiert so dramatisch, wie es in diesen Medienformen üblich ist, vermischt ungeschickt öffentliche Bibliothek (Pippi Langstrumpf) mit wissenschaftlicher Informationsversorgung (Open Access) und beschreibt als Ursache Aspekte des allbekannten Medienwandels. Das kann man so (leider) in nahezu jeder deutschen Publikumszeitschrift/Wochenzeitung erwarten.
Dass ÖBs möglicherweise auch aus dem Grund zusammengestrichen werden, weil sie ein besonders weiches Ziel bei Haushaltskonsolidierungen darstellen, hätte der Autor sicher auch erwägen können. Stattdessen verfällt er leider dem Irrtum, das gedruckte Buch sei das Kerngeschäft einer öffentlichen Bibliothek (und verzichtete man auf die digitalen Angebote, wäre etwas zu gewinnen). Wir wissen: Das war es noch nie. Im Zentrum stand immer die, wie auch immer geartete, Vermittlung. Das Buch tritt dabei als das auf, was es ist: Als Medium.
Ich denke, dass sich David Oels vor allem für den Wert der Bibliothek als Ort ausspricht. In diesem Zusammenhang kann die Objekthaftigkeit einer Medienform durchaus eine Rolle spielen. Das müsste man dann aber zugegeben anders darstellen.
Dass er von “stationären” Bibliotheken spricht, ist vermutlich einfach darauf zurückzuführen, dass er sich mehr mit dem Buchhandel befasst. Dem steht es sicherlich sehr gut an, wenn er sich auf sein “Kerngeschäft” Buch besinnt. Denn E-Books kauft man nunmal eher nicht in der Fußgängerzone. Dass man dagegen in der Stadtbibliothek ins Internet gehen kann, darf man heute schon als traditionelles Grundelement öffentlicher Bibliotheksversorgung bezeichnen.
Ja, der Text ist in der Tat genauso schlecht wie man es von vielen Zeitungen nicht anders gewohnt ist. Aufgegriffen habe ich ihn eigentlich auch nur, weil er von einem Buchwissenschaftler geschrieben wurde. Der in der breiten Öffentlichkeit sicherlich als Koryphäe die Bibliotheken betreffend ausgemacht wird. Wer weiß schon, wer sich wissenschaftlich mit Bibliotheken auseinandersetzt?
Danke für diese Besprechung, da kann ich mir meine sparen. Mich ärgerte etwas die Vermischung von Open Access und Onleihe.
Ich sehe gerade, dass das ein Prof. geschrieben hat. Nun gut, ist halt fremdes Terrain für ihn. Vielleicht sollte ich mal was über Quantenphysik oder Rettungsfonds schreiben. Das wäre ähnlich sinnvoll und zusammenhängend.